Eine große Theorie besteht so lange, bis eine bessere, umfassendere Vermutung sie ablöst.

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Newton und Popper treffen sich in einer Bibliothek. Newton, ernst und von der Statur seiner Entdeckungen überzeugt, sitzt an einem Tisch und betrachtet eine Ausgabe der „Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica“. Popper, lebhafter und mit einem kritischen Funkeln in den Augen, tritt hinzu:
Newton: (Blickt auf) Ah, Sie sind dieser Philosoph, der meint, unsere Arbeit beruhe nicht auf der sicheren Grundlage der Beobachtung. In meinen „Principia“ habe ich die Bewegungen der Himmelskörper und die Gesetze der Schwere auf die exakteste Weise aus den Phänomenen abgeleitet. Es war kein bloßes Raten.
Popper: Verehrter Sir Isaac, ich bewundere Ihre Arbeit zutiefst. Ihre Gravitationstheorie ist eine der kühnsten und erfolgreichsten Vermutungen aller Zeiten. Doch genau das ist mein Punkt: Sie begann nicht mit der einfachen Sammlung von Daten, sondern mit einem genialen Einfall – Ihrer Vermutung, dass die gleiche Kraft, die einen Apfel fallen lässt, auch den Mond in seiner Bahn hält.
Newton: Einfall? Es war die logische Schlussfolgerung! Ich habe die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung genommen und mathematisch gezeigt, dass sie zwangsläufig auf eine Kraft hindeuten, die umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung wirkt. Das ist die strengste Methode der Analyse und Synthese. Ich habe hypotheses non fingo – ich erdenke keine Hypothesen.

Popper: Und genau dieser Satz ist faszinierend! Was Sie eine „Hypothese“ nennen, nenne ich eine „falsifizierbare Vermutung“. Ihre Theorie war deswegen so großartig, weil sie unglaublich viel Risiko trug. Sie sagte präzise vorher, wie sich Planeten, Kometen, ja selbst die Gezeiten verhalten müssten. Hätte man zum Beispiel einen Planeten entdeckt, der sich nicht an die Keplerschen Gesetze hält, wäre Ihre Theorie widerlegt gewesen. Das ist das Entscheidende!
Newton: (Etwas unwirsch) Widerlegt? Die Theorie stimmt mit den Phänomenen überein! Sie erklärt die Gezeiten, die Bahn des Mondes, die Präzession der Äquinoktien. Diese Übereinstimmung ist der Beweis. Wir verifizieren sie ständig durch neue Beobachtungen.

Popper: Das ist der Trugschluss der Verifikation! Keine Menge an beobachteten weißen Schwänen beweist, dass alle Schwäne weiß sind. Aber ein einziger schwarzer Schwan (entdeckt in Australien im Jahr 1697) widerlegt die Aussage. Ebenso kann Ihre Theorie nie endgültig bewiesen werden. Ihre Stärke liegt darin, dass sie allen Versuchen der Widerlegung standgehalten hat – bisher. Sie war einer harten Prüfung ausgesetzt und hat sie bestanden. Das macht sie zur besten Theorie, die wir haben, aber nicht zur endgültigen Wahrheit.
Newton: Sie sprechen von Wahrheit, als ob sie unerreichbar sei. Meine Gesetze beschreiben die Welt mit mathematischer Genauigkeit. Was könnte wahrer sein?
Popper: Wahrheit ist unser Ziel, aber wir können nie sicher sein, sie erreicht zu haben. Der Fortschritt besteht im Beseitigen von Irrtümern. Stellen Sie sich eine Theorie vor, die Ihre vorhersagt, aber noch präzisere Berechnungen erlaubt oder Phänomene erklärt, die in Ihrem System rätselhaft bleiben – wie die perfekte Umlaufbahn des Merkur. Würde das Ihre Lebensarbeit wertlos machen?

Newton: (Nachdenklich) Eine Theorie, die meine einschließt und erweitert, wäre ein Fortschritt. So wie ich auf den Schultern von Riesen stand.
Popper: Ganz genau! Und dieser Fortschritt wäre nicht möglich gewesen, wenn Ihre Theorie nicht so klar und widerlegbar formuliert worden wäre. Sie haben der Nachwelt eine Vermutung hinterlassen, die so klar war, dass sie getestet, kritisiert und schließlich – wie durch Einstein – überwunden werden konnte. Das ist das Vermächtnis einer wirklich wissenschaftlichen Theorie: Sie bietet nicht nur Antworten, sondern wirft bessere, neue Fragen auf. Sie ist nicht ein Schlussstein, sondern eine Plattform für weitere Vermutungen und Widerlegungen.
Newton: (Ein leichtes Lächeln zeichnet sich ab) Hm. Vielleicht ist die Suche nach der Wahrheit also doch ein fortwährender Prozess des Irrtums und der Korrektur, ähnlich der Integralrechnung, bei der man sich einer Lösung annähert. Meine „Principia“ wären dann nicht das vollendete Gebäude, sondern der bis dahin stabilste Bau, der jedoch weiterer Renovierung fähig ist.
Popper: Präziser könnte ich es nicht formulieren, Sir Isaac. Das ist das Wesen der Wissenschaft.